Wann endet die Arglosigkeit eines Opfers beim Tötungsdelikt (§§ 211, 212 StGB)?

Im Rahmen eines Tötungsdelikts an einer Beifahrerin hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) kürzlich mit der Frage auseinandergesetzt, zu welchem Zeitpunkt die Arglosigkeit eines Opfers eigentlich entfällt. Der Angeklagte hat im zugrundeliegenden Fall das spätere Opfer daheim abgeholt und ist gemeinsam mit ihr in ihrem Auto gefahren. Nachdem er das Fahrzeug zwischenzeitlich betankt hatte, ist er mit ihr an einen unbekannten Ort gefahren, an welchem er das Opfer mit zwei Schüssen in den Kopf getötet hat. Unklar blieb, ob er das Opfer zuvor entweder während der Fahrt oder erst an diesem Ort mit der Schusswaffe bedroht hat.

Urteil des Landgerichts Köln

Das Landgericht Köln hatte den Angeklagten zunächst wegen Totschlags nach § 212 StGB verurteilt (Urteil vom 17. März 2022 – 104 Ks 23/21). Ein Heimtückemord lag nach Ansicht des Landgerichts Köln nicht vor, weil nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen gewesen sei, dass sich die Geschädigte im Moment der ersten Schussabgabe keines Angriffs durch den Angeklagten auf ihr Leben versehen und der Angeklagte dies bewusst ausgenutzt habe. Ein dementsprechend zwingender Schluss sei nicht möglich. Es sei nämlich denkbar, dass der Angeklagte der Geschädigten die Schusswaffe zuvor vorgehalten und diese damit bedroht habe.

Heimtücke ist eines der Mordmerkmale im Strafrecht, die für eine Bestrafung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes gem. § 211 StGB Voraussetzung ist. Der Totschlag ist hingegen „nur“ mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren sanktioniert. Von dementsprechender Relevanz ist eine klare Abgrenzung.

Heimtückisch wird eine Tötung begannen, wenn das Opfer zum Zeitpunkt des Angriffs arg- und wehrlos ist und der Täter dies bewusst ausnutzt. Arglos ist das Opfer wiederum nur, wenn es zum Zeitpunkt der Tat keinen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit erwartet. Der zu bestimmende Zeitpunkt war der „Knackpunkt“ des Falles.

Aufhebung durch BGH

Auf die Revision der Nebenklägerinnen hob der BGH das Urteil nebst Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Köln zurück und positionierte sich zum Verständnis der Arglosigkeit eines Opfers:

„1. Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt.

a) Arglos ist ein Opfer, das sich keines Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen oder zu fliehen (vgl. Senat, Urteil vom 17. Januar 2001 – 2 StR 438/00BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 – 4 StR 337/20, NStZ 2021, 609, 610).

b) Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Anders als vom Landgericht angenommen beginnt der Angriff aber nicht erst mit der eigentlichen Tötungshandlung, hier der Schussabgabe, sondern umfasst auch die unmittelbar davor liegende Phase. Ebenso wenig erfordert heimtückisches Handeln ein heimliches Vorgehen. So kann ein Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig gegenübertritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. Senat, Urteil vom 17. Januar 2001 – 2 StR 438/00BGH, Urteil vom 15. September 2011 – 3 StR 223/11, NStZ 2012, 35).

c) Ein heimtückisches Vorgehen kann zudem auch in Vorkehrungen liegen, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Tat noch fortwirken. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter sein Opfer noch im Vorbereitungsstadium unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeit bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in dieser Sachverhaltskonstellation ohne Bedeutung (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2020 – 5 StR 124/20 m.w.N.).

Nach den Feststellungen zum Tathergang besorgte sich der Angeklagte die Tatwaffe unmittelbar bevor er mit der Geschädigten zum späteren Tatort fuhr, was ein geplantes Vorgehen belegt. Damit, ob die auf dem Beifahrersitz des Kleinwagens sitzende Geschädigte an diesem – naheliegend abgelegenen – Tatort bei einer gegebenenfalls noch vor Schussabgabe erfolgten Bedrohung mit der Schusswaffe überhaupt eine Möglichkeit zur Flucht oder Verteidigung hatte, hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2002 – 5 StR 545/01, NStZ 2002, 368); dies hat es aufgrund seines rechtsfehlerhaften Verständnisses des Mordmerkmals der Heimtücke verkannt.“

Fazit

Diese rechtliche Einordnung des Mordmerkmals Heimtücke wird vor allem dem Umstand gerecht, dass es für eine Strafbarkeit wegen Mordes nicht einzig darauf ankommen kann, ob das Opfer die Tötungsabsicht erst unmittelbar vor der Tötung erfährt. Wenn das Opfer dem Täter von diesem Zeitpunkt an bis zur Tötung machtlos ausgeliefert ist, so ändert die reine Kenntnis von der Tötungsabsicht ohne Möglichkeit, in den Geschehensablauf einzugreifen, für das Opfer nichts. Ein Grund, warum der Täter sodann privilegiert werden sollte und eine Verurteilung wegen Mordes ausscheidet, ist nicht ersichtlich.

Quelle: Website des Bundesgerichtshofs / Bild: Darkmoon_Art via Pixabay