Anwaltsschreiben

Pflichtverteidigung

Um den Begriff der Pflichtverteidigung existieren viele Missverständnisse – gerade unter Nichtjuristen. Pflichtverteidigung bedeutet nämlich gerade nicht, dass man wahllos einen Verteidiger vorgesetzt bekommt, den das eigene Schicksal im Extremfall nicht im Geringsten interessiert. Aus diesem Grund sollen die nachstehenden Ausführungen die Grundsätze dieses Rechtsinstituts in allgemein verständlicher Form darlegen.

Der Gesetzgeber spricht in der Strafprozessordnung statt von Pflichtverteidigung von der sogenannten „notwendigen Verteidigung“ und regelt diese in den §§ 140 ff. StPO. Gemeint sind damit Fälle, in denen die Beteiligung eines Verteidigers am Verfahren vorgeschrieben ist. Die entsprechenden Regelungen wurden Ende 2019 grundlegend neu gefasst, um europarechtliche Vorgaben umzusetzen. Dem vermeintlichen Täter muss also frühzeitig ein Verteidiger zur Seite gestellt werden –  regelmäßig selbst dann, wenn er eine anwaltliche Vertretung gar nicht wünscht! In diesen Regelungen kommt der Grundsatz zum Ausdruck, dass in einem Rechtsstaat jedem Beschuldigten in „wichtigen“ Fällen eine wirksame Verteidigung möglich sein muss – und zwar unabhängig von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Beschuldigten. Andernfalls würde Menschen mit geringeren finanziellen Mitteln die Verteidigung selbst gegen völlig ungerechtfertigte Anschuldigungen erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Um diesen Grundsatz jedoch nicht ins völlig Uferlose ausarten zu lassen, ist er an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Die wichtigsten Fälle der notwendigen Verteidigung sind solche, bei denen:

  • ein Verfahren in erster Instanz erwartbar vor dem Land- oder Oberlandesgericht oder Schöffengericht verhandelt wird,
  • dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird,
  • das Verfahren zu einem Berufsverbot führen könnte,
  • bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint oder,
  • der Beschuldigte einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist.

Doch es existieren noch viele weitere Konstellationen, in denen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen kann. So ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Im Gegensatz zu den oben genannten Beispielen haben Sie hier jedoch keinen gesetzlich eindeutig normierten Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. Vielmehr liegt dessen Bestellung im Ermessen des entsprechenden Richters (bei besonderer Eilbedürftigkeit unter Umständen auch die Staatsanwaltschaft), wobei gegen eine diesbezüglich ablehnende Entscheidung die Beschwerde möglich ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die Schwere der Rechtsfolge, also das zu erwartende Strafmaß. Abzustellen ist jedoch stets auf den jeweiligen Einzelfall, dessen Besonderheiten hinreichend berücksichtigt werden müssen.

Aufforderung nach Erhalt der Anklageschrift

In der Praxis fordert Sie das Gericht häufig mit der Zusendung der Anklageschrift auf mitzuteilen, ob Sie die Beiordnung eines bestimmten Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger wünschen – wenn denn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. In der Folge liegt es an Ihnen, ob Sie sich selbst einen Verteidiger suchen oder sich einen Verteidiger durch das Gericht suchen lassen. Den ersten Fall bezeichnet man als (Wahl-)Pflichtverteidiger, den zweiten Fall als (Zwangs-)Pflichtverteidiger. Die Auswahl des Verteidigers darf somit nicht über den Kopf des vermeintlichen Täters hinweg getroffen werden. Vielmehr muss dieser angehört werden – er hat das Recht und eine angemessene Überlegensfrist, einen Anwalt seiner Wahl als gewünschten Pflichtverteidiger zu benennen. Dieses Wahlrecht hat im Übrigen Verfassungsrang.

Anwalt der ersten Stunde

Durch die angesprochene Gesetzesänderung wurde jedoch zusätzlich das Institut des „Anwalts der ersten Stunde“ in das Gesetz implementiert. Zwar war es bereits zuvor anerkannt, dass der Verteidiger grundsätzlich bereits bei der ersten polizeilichen Vernehmung anwesend sein darf. Nun kann jedoch jeder Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen, sobald er vorläufig festgenommen wurde. Über diesen Antrag ist spätestens noch vor einer (ersten) polizeilichen Vernehmung zu entscheiden. Der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung wird damit deutlich nach vorne verlagert.

Pflichtverteidigung vs. Wahlverteidigung

Darüber hinaus unterscheidet man zwischen Pflichtverteidiger und Wahlverteidiger. Von einem Wahlverteidiger spricht man in Zusammenhang mit dem zuvor Gesagten also immer dann, wenn gerade kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. Möglich ist es teilweise auch, den zunächst beauftragten Wahlverteidiger im Verlauf des Verfahrens zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Zwischen Wahlverteidiger und Pflichtverteidiger existieren insoweit keine fachlichen Unterschiede. Beide sind examinierte Volljuristen und verfügen grundsätzlich über dieselbe Qualifikation.

Aus diesem Grund kann bei einer Pflichtverteidigung auch nicht von einer Verteidigung „zweiter Klasse“ gesprochen werden. Ein gewissenhafter Pflichtverteidiger, der seine Aufgabe ernst nimmt, wird die Verteidigung eines Beschuldigten mindestens genauso sorgfältig angehen wie ein Wahlverteidiger. Der einzige Unterschied besteht in der Mandatserlangung. Während der Pflichtverteidiger vom Gericht für einen Beschuldigten in einem bestimmten Fall bestellt wird, wird im Fall der Wahlverteidigung der Verteidiger durch den Mandanten beauftragt.

Beachten Sie Ihr Wahlrecht!

Dennoch sollten sie im Fall einer Pflichtverteidigung stets von Ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Zwar ist es in der Theorie so, dass der Pflichtverteidiger „neutral“ aus dem Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer – und hier entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein anderer Rechtsanwalt, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat – ausgewählt wird. In der Praxis läuft es jedoch häufig anders. So kommt es oftmals nicht zu einer gerechten Auswahl, vielmehr werden immer wieder einige wenige Rechtsanwälte beigeordnet – „Vitamin B“ ist hier das Stichwort.

Die Nachteile eines solchen (Berufs-)Pflichtverteidigers liegen auf der Hand. Es besteht das Risiko, dass das Gericht einen Verteidiger benennt, bei dem sich das Gericht sicher sein kann, dass er diesem wenig entgegensetzen wird. Mit drastischen Worten: Sie können sich oftmals auf einen schlechten Verteidiger einstellen. Die gerichtliche Vergabepraxis derartiger (Zwangs-)Beiordnungen ist – vorsichtig formuliert – höchst intransparent. Nicht selten werden hier persönliche Beziehungen gepflegt und Bekannte oder Freunde und/oder deren Töchter und Söhne beigeordnet. Richter sind auch nicht dazu verpflichtet, darüber Auskunft zu erteilen, warum sie welchen Rechtsanwalt beiordnen. Auch besteht keine echte Verpflichtung, deren fachliche Qualifikation im Strafrecht zu überprüfen. Ebenso wenig muss eine gerechte Auswahl innerhalb der Anwälte des Gerichtsbezirks erfolgen.

Beliebt sind bei Gerichten – ganz klar – im Allgemeinen Verteidiger, die wenige Schwierigkeiten machen und dem Gericht einen entspannten Arbeitstag garantieren (die sog. „Verurteilungsbegleiter“). Nehmen Sie sich vor dieser gerichtlichen Willkür in Acht und machen Sie von Ihrem Recht auf einen Pflichtverteidiger Ihrer Wahl unbedingt Gebrauch. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie sich bereits vor der Hauptverhandlung einer realistischen Chance auf eine erfolgreiche Verteidigung berauben. Und zwar einer Verteidigung, die Ihre Interessen in den Vordergrund stellt und nicht die des Gerichts oder des Pflichtverteidigers, der es sich mit dem Gericht nicht durch eine konfrontative Verteidigung verderben will.

Kosten

Wichtig ist zudem die Kostenfrage: Ein Pflichtverteidiger wird zunächst von der Staatskasse bezahlt. Der Beschuldigte wird also erst einmal davon freigestellt, die Kosten für die Verteidigung zu tragen. Dennoch ist der Pflichtverteidiger keineswegs ein grundsätzlich kostenloser Rechtsbeistand. Wird der Beschuldigte tatsächlich verurteilt, so muss er in der Regel die Kosten des Verfahrens tragen, also auch die Kosten des Pflichtverteidigers. Jedoch wird die Staatskasse dann die bereits an den Verteidiger gezahlten Gebühren von dem Beschuldigten zurückverlangen. Anders sieht das natürlich im Falle eines Freispruchs aus.


Fachanwalt für Strafrecht

Als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht mit langjähriger Erfahrung aus unzähligen Verfahren übernehme ich auch Mandate als Pflichtverteidiger und stehe meinen Mandanten mit der gleichen Akribie, der gleichen Einsatzbereitschaft und der gleichen Leidenschaft wie als Wahlverteidiger zur Seite.


Rechtsnorm § 140 StPO – Notwendige Verteidigung

Die zentrale Norm der Pflichtverteidigung, der § 140 StPO (Notwendige Verteidigung), hier im Wortlaut:

(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn

  1. zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;
  2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird;
  3. das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;
  4. der Beschuldigte nach den §§ 115115a128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist;
  5. der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet;
  6. zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt;
  7. zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird;
  8. der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist;
  9. dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist;
  10. bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint;
  11. ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt.

(2) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.