Reform des Strafrechts

Spezialreport StPO-Reform 2019: Die geplante Modernisierung des Strafverfahrens

Als eine der letzten Amtshandlungen der vergangenen Legislaturperiode haben Bundestag und Bundesrat das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens beschlossen, das am 24.08.2017 in Kraft getreten ist (BGBl. I, S. 3202). Nun steht ziemlich genau zwei Jahre später die nächste Reform vor der Tür. Geplant ist ein Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens. Nachdem bereits im Mai dieses Jahres die Eckpunkte vorgelegt wurden, befindet sich nun ein erster vollständiger Gesetzesentwurf auf dem Tisch.

A. Ziele und Hintergrund der StPO-Reform

Der Gesetzgeber hat sich dabei folgende Ziele auf die Fahnen geschrieben: So seien die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen wesentliche Aufgaben der Strafrechtspflege, deren Umsetzung nach Verfahrensvorschriften verlange, die die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sicherstellen. Angeknüpft werden solle dabei an die letzte StPO-Reform, die zur Effektivierung und Steigerung der Praxistauglichkeit des Strafverfahrens beigetragen habe. Dennoch bestehe weiterhin Regelungsbedarf.

Notwendig sei eine weitere Beschleunigung und Verbesserung des Strafverfahrens. So sollen missbräuchlich gestellte Befangenheits- und Beweisanträge unter erleichterten Voraussetzungen abgelehnt werden können. Durch die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens für den Besetzungseinwand soll zeitnah Rechtssicherheit über die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts geschaffen werden. Die Nebenklagevertretung soll durch die Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters bei mehreren Nebenklägern gebündelt werden können. Auch sollen künftig gesetzlicher Mutterschutz und Elternzeit Gründe dafür sein, die Fristen für die Unterbrechung der Hauptverhandlung so weit wie strafverfahrensrechtlich vertretbar, nämlich bis zu einer Dauer von zwei Monaten, zu hemmen. Schließlich soll in Gerichtsverhandlungen das Verbot eingeführt werden, das Gesicht ganz oder teilweise zu verdecken.

Zur Verfolgung des Wohnungseinbruchdiebstahls soll die Telekommunikationsüberwachung erweitert werden. Auch sollen die Möglichkeiten der DNA-Analyse im Strafverfahren noch weitreichender genutzt werden können. Schließlich soll eine Eilkompetenz der Führungsaufsichtsstellen zur Übermittlung personenbezogener Daten an die Polizeibehörden geschaffen und eine umfassende Informationsweitergabe im Rahmen von „Runden Tischen“ ermöglicht werden.

Zudem soll der Opferschutz im Strafverfahren noch weiter gestärkt werden. Der Entwurf sieht vor, die audiovisuelle Aufzeichnung von richterlichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren von zur Tatzeit erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten verpflichtend vorzuschreiben. Um Vollzugsdefizite zu beseitigen, soll die derzeitige Sollvorschrift des § 58a Abs. 1 S. 2 der Strafprozessordnung (StPO) als Mussvorschrift für die Fälle gefasst werden, in denen Opfer von Sexualstraftaten richterlich vernommen werden. Ferner soll der Anspruch des Nebenklägers auf privilegierte Bestellung eines Rechtsbeistandes insbesondere auf Fälle der Vergewaltigung ausgedehnt werden.

Mit der Einführung eines bundesweit geltenden Gerichtsdolmetschergesetzes sollen die derzeit in den Ländern unterschiedlich ausgestalteten Standards für die Beeidigung von Gerichtsdolmetschern vereinheitlicht werden. Sowohl die persönlichen als auch die fachlichen Voraussetzungen eines Gerichtsdolmetschers sollen dabei festgelegt werden.

Wie schon die Reform vor zwei Jahren, stößt auch der neue Gesetzesentwurf auf teils drastische Kritik – insbesondere aus den Reihen der Praktiker. In diesem Report stellen wir Ihnen die geplanten Änderungen und die dahinterstehenden Überlegungen vor. Das Grundraster wird dabei aus dem Eckpunktepapier übernommen. Gegenübergestellt wird den geplanten Neuregelungen jeweils die Position der Kritiker, um ein vollständiges Bild zu ermöglichen und insbesondere die Auswirkungen auf die Praxis zu berücksichtigen.


B. Die geplanten Änderungen für 2019

  1. Bündelung der Nebenklagevertretung
  2. Ausweitung der Nebenklageberechtigung auf alle Vergewaltigungstatbestände
  3. Vereinfachung des Befangenheitsrechts
  4. Vereinfachung des Beweisantragsrechts
  5. Vorabentscheidungsverfahren für Besetzungsrügen
  6. Harmonisierung der Unterbrechungsfristen mit Mutterschutz und Elternzeit
  7. Erweiterung der DNA-Analyse
  8. Bekämpfung des Einbruchsdiebstahls
  9. Qualitätsstandards für Gerichtsdolmetscher
  10. Gesichtsverhüllung vor Gericht
  11. Informationsbefugnis für Bewährungshilfe/Führungsaufsicht
  12. Bild-Ton-Aufzeichnungen einer richterlichen Vernehmung


1. Bündelung der Nebenklagevertretung (neu zu schaffender § 397b StPO)

Die Bündelung der Nebenklagevertretung soll zum einen die wirksame und nachhaltige Wahrnehmung der Opferinteressen in der Hauptverhandlung ermöglichen. Zum anderen sollen Verfahrensverzögerungen vermieden und die „Waffengleichheit“ als konstituierendes Element einer fairen Verfahrensführung sichergestellt werden. Die Regelungsziele sollen durch die Änderung der Vorschriften zur Bestellung eines Beistands bzw. über die Prozesskostenhilfe gemäß § 397a StPO erreicht werden. Der Entwurf sieht dabei einen neuen § 397b StPO vor. Dieser hat zum Inhalt, dass das Gericht mehreren Nebenklägern, die gleichgerichtete Interessen verfolgen, nur einen Nebenklagevertreter (Mehrfachvertretung) beiordnen können soll. Bei seiner Ermessensentscheidung bildet das Gericht Gruppen von Nebenklägern anhand einer Abwägung zwischen den Verfahrensrechten des Angeklagten einerseits und der Nebenklage andererseits bei Berücksichtigung verschiedener Interessen und von Verfahrensdauer und -effizienz.

Gleichgerichtete Interessen sollen dabei in der Regel in den Fällen des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO (Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten und Lebenspartner einer getöteten Person) anzunehmen sein. In der Gesetzesbegründung soll klargestellt werden, dass diese Aufzählung nicht abschließend ist und gleichgerichtete Interessen auch bei den Angehörigen mehrerer Opfer von Terroranschlägen oder Großschadensereignissen gegeben sein können. Zudem soll den betroffenen Nebenklägern vor der Beiordnung beziehungsweise Bestellung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Neuregelung zu einer fiskalischen Entlastung der Länder führen wird, da die Anzahl der Beiordnungen sinken werde. Zudem greife sie schonend in die bisherigen Rechte des Nebenklägers ein und belasse ihm die Möglichkeit, zusätzlich einen Individualbeistand seines Vertrauens auf eigene Kosten zu beauftragen.

Kritik: Hier wird bereits die verwendete Sprachregelung kritisiert. So seien die Begriffe „Opfer“, „Opferinteressen“ und „Opferanwälte“ nicht mit der geltenden Unschuldsvermutung in Einklang zu bringen. Die Nebenklagevertretung sei vielmehr ein Instrument, um die Interessen der Personen zu vertreten, die behaupten, „Verletzte“ zu sein. In der Praxis dürften die geplanten Neuregelungen vor allem dann Sinn machen, wenn einer großen Anzahl von Nebenklägervertretern nur wenige angeklagte Personen gegenüberstehen. Beispielhaft sind hier das NSU-Verfahren und der Loveparade-Prozess zu erwähnen. Da aber weiter die Möglichkeit bestehen soll, frei einen Anwalt zu wählen, ist bereits fraglich, ob es so tatsächlich zu dem gewünschten Effekt kommt. Vielmehr dürften vor allem fiskalische Interessen im Vordergrund stehen.

Zweifelhaft ist weiter, ob man die Interessen der Nebenkläger so gleichschalten kann, wie es der Gesetzesentwurf tut (am Beispiel der Angehörigen einer getöteten Person). Die Strafverteidigervereinigungen weisen zurecht darauf hin, dass die Interessen deutlich vielgestaltiger sind. Den einen gehe es um eine gerichtliche Aufklärung des Sachverhalts, den anderen um eine Schuldfeststellung, wieder anderen um eine möglichst hohe Strafe oder um die Zuerkennung von Schadensersatz. Diese Interessen könnten massiv miteinander in Konflikt geraten und sich vor allem im Lauf der Hauptverhandlung ändern. Ohnehin sind die einschlägigen Fälle eher selten, sodass sich die Auswirkungen wohl in Grenzen halten dürften.

2. Ausweitung der Nebenklageberechtigung auf alle Vergewaltigungstatbestände (Änderung des § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO)

Der Gesetzgeber hält die Beiordnung eines Opferanwalts insbesondere in sämtlichen Vergewaltigungsfällen für sachgerecht, und zwar auch, wenn keine Gewalt angewendet und auch nicht mit Gewalt gedroht wird, sondern ein Handeln gegen den erkennbaren Willen vorliegt. Dabei soll es Opfern von Straftaten nach dem durch die letzte Reform des Sexualstrafrechts deutlich erweiterten und neu gefassten § 177 des Strafgesetzbuches (StGB) auch dann ermöglicht werden, einen Opferanwalt nach § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO beigeordnet zu bekommen, wenn nur ein Vergehen vorliegt, jedoch die Voraussetzungen eines Regelbeispiels für einen besonders schweren Fall (§ 177 Abs. 6 StGB) erfüllt sind. Die Bestellung des Opferanwalts entspricht in dieser Fallvariante der alten Rechtslage, in der auch Opfern des – nunmehr aufgehobenen und in § 177 StGB integrierten – § 179 StGB ein Opferanwalt nach § 397a StPO beigeordnet werden konnte.

Kritik: In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass der unzutreffende Eindruck erweckt werde, es handele sich nur um die Korrektur einer durch die letzte Verschärfung des Sexualstrafrechts verursachten Lücke gegenüber dem „alten“ Recht. Die Überschrift sei ohnehin irreführend, da die Nebenklageberechtigung bereits jetzt nahezu alle Sexualstraftaten erfasse. Tatsächlich gehe es um die Ausweitung des Beiordnungsanspruchs gem. § 397a Abs. 1 StPO. Die Einfügung des Vergehens gem. § 177 Abs. 6 StGB in den Katalog des § 397a Abs. 1 Nr. 1-3 StPO sei ein Dammbruch, der Nachahmung finden werde.


3. Vereinfachung des Befangenheitsrechts (Neufassung des § 29 StPO)

Der Neuentwurf legt die Annahme zugrunde, dass Befangenheitsanträge unter statistischen Gesichtspunkten in aller Regel unbegründet sind. Aus diesem Grund sollen die Möglichkeiten, Hauptverhandlungen zu obstruieren, beschränkt werden. Der bisher geltende, aber mit diversen Ausnahmen versehene Grundsatz der Wartepflicht bei Stellung eines zulässigen Befangenheitsantrags, wonach lediglich unaufschiebbare und im Übrigen keine Verfahrenshandlungen mehr vom abgelehnten Richter vorgenommen werden dürfen, soll abgeschafft werden. Stattdessen soll für vor oder nach Beginn der Hauptverhandlung gestellte Ablehnungsgesuche eine Fristenregelung eingeführt werden. Danach soll über Befangenheitsgesuche in der Regel innerhalb einer Frist von zwei Wochen oder aber (falls dieser nach Fristablauf liegt) bis zum Beginn des übernächsten Verhandlungstages entschieden werden. Als absolut spätester Zeitpunkt für die Entscheidung soll der Zeitpunkt vor der Urteilsverkündung bestimmt werden. Innerhalb dieser Grenzen soll der abgelehnte Richter an der Hauptverhandlung mitwirken dürfen. Beibehalten werden soll der Grundsatz der Wartefrist hingegen mit Blick auf Entscheidungen, die auch außerhalb der Hauptverhandlung ergehen können (§ 29 Abs. 2 S. 3 StPO). Befangenheitsanträge, deren Gründe bis zur Mitteilung über die Besetzung bereits bekannt geworden sind, müssen – gegebenenfalls gemeinsam mit der Besetzungsrüge (vgl. Ziff. 5) – innerhalb einer Woche ab Zustellung der Besetzungsmitteilung gestellt werden; anderenfalls sind sie präkludiert. In der Gesetzesbegründung soll zudem klargestellt werden, dass Unterbrechungsersuchen zum Zwecke der Antragsprüfung schon nach geltender Rechtslage im Rahmen der Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden unterbunden werden können. Ein Regelungsbedarf bestehe insoweit nicht.

Kritik: Hier muss bezweifelt werden, dass in der Praxis überhaupt ein Regelungsbedarf besteht. Zwar ist die Statistik hinsichtlich der Begründetheit von Befangenheitsanträgen korrekt, sie verrät jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn Teil der Statistik ist weiter, dass Befangenheitsanträge tatsächlich nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich angebracht werden. Nachdem das Befangenheitsrecht erst vor zwei Jahren umfangreich geändert wurde, kann der Tatendrang des Gesetzgebers hier nicht wirklich nachvollzogen werden. Vielmehr sollten die jungen Neureglungen zunächst weiter auf ihre Praxistauglichkeit überprüft werden.

Kritisch wird zudem vorgebracht, dass die geplante Abschaffung der Wartepflicht das Ablehnungsrecht zu Lasten von Beschuldigten völlig aushöhlen würde. Die vorgesehene Fristregelung würde es dem abgelehnten Richter ermöglichen, wesentliche Kernstücke der Beweisaufnahme bei entsprechend enger Terminierung an einer Mehrzahl von Hauptverhandlungstagen vorzunehmen, bevor über den Antrag überhaupt entschieden sei.


4. Vereinfachung des Beweisantragsrechts (Änderung des § 244 Abs. 3 StPO)

Um missbräuchlich gestellte Beweisanträge leichter ablehnen zu können, sollen die Voraussetzungen für die Annahme der Verschleppungsabsicht abgesenkt werden. Der gesetzliche Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht gemäß § 244 Abs. 3 S. 2 Variante 6 StPO soll in der Weise präzisiert werden, dass er in objektiver Hinsicht nicht mehr die Eignung der verlangten Beweisaufnahme zu einer „wesentlichen“ Verzögerung des Verfahrens verlangt. Das Erfordernis der „wesentlichen“ oder „erheblichen“ Verzögerung habe bislang maßgeblich dazu beigetragen, dass der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht in der juristischen Praxis lediglich ein Schattendasein friste. In § 244 StPO soll klargestellt werden, dass die Frage, ob ein Beweisantrag nur der Prozessverschleppung dient, der Würdigung des Instanzgerichts obliegt. Somit werde deutlich, dass das Tatgericht (und nicht das Revisionsgericht) den Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht selbst zu würdigen habe, was sich auf die Begründungsanforderungen auswirke. Im Übrigen soll gesetzlich klargestellt werden, dass es einer Ablehnung nicht entgegensteht, wenn neben der Verzögerung weitere verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden, etwa politische Propaganda, die Diskreditierung Dritter oder eine Nötigung des Gerichts.

Die Anforderungen an das Vorliegen eines Beweisantrags, der – im Gegensatz zu einem Beweisermittlungsantrag – nur unter den strengen Voraussetzungen von § 244 Abs. 3 und 4, § 245 Abs. 2 StPO abgelehnt werden darf, sollen gesetzlich definiert und präzisiert werden. Bislang enthält die StPO hierzu nur rudimentäre Bestimmungen, und auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) bietet hier kein vollständig einheitliches Bild. Bei der Legaldefinition soll deshalb das bislang richterrechtlich determinierte Erfordernis der Konnexität von Beweistatsache und Beweismittel im Gesetz verankert werden. In der Gesetzesbegründung soll zudem klargestellt werden, dass Sinn und Zweck des § 244 Abs. 6 StPO eine erneute Fristsetzung nur bei solchen Beweisanträgen erfordert, die sich aus der Beweisaufnahme nach Wiedereintritt ergeben.

Kritik: Besonders in diesem Punkt trifft der Gesetzesentwurf auf reichlich Gegenwind. Die Strafverteidigervereinigungen bezeichnen den Titel der „Vereinfachung des Beweisantragsrechts“ als Euphemismus. Vielmehr werde nicht das Beweisantragsrecht vereinfacht, sondern die tatrichterliche Handhabe, sich Beweisanträgen einfacher zu „entledigen“. Zudem würden Beweisanträge selbst komplizierter, wenn das Merkmal der Konnexität Gesetz werde.

Besonders deutliche Worte findet man für das Vorhaben, die tatrichterliche Annahme einer Verschleppungsabsicht der revisionsrichterlichen Kontrolle entziehen zu wollen. So werde das Beweisantragsrecht in einer Weise enthauptet, wie dies zuvor nur in der rechtsstaatsfreien Zeit zwischen 1933 bis 1945 der Fall gewesen sei. So sei das Beweisantragsrecht als notwendig erkanntes Korrektiv zur inquisitionsrichterlichen Macht der Tatrichter entwickelt worden und damit gleichsam auch eine Schöpfung revisionsrichterlicher Kontrolle des Tatrichters. Nur das von einem ehemaligen Oberstaatsanwalt vertretene rechtspolitische Programm der AfD gehe in diesem Sinne noch einen Schritt weiter (Abschaffung der Revision und Ersetzung durch eine Annahmeberufung).

In der Tat darf unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht vergessen werden, dass das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung von überragender Bedeutung und Wichtigkeit ist, um dem staatsanwaltschaftlich geprägten Ermittlungsverfahren etwas entgegensetzen zu können. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob die Beweisanträge lediglich auf Vermutungen beruhen. In der Praxis ist zu befürchten, dass Beweisanträge immer häufiger deshalb zurückgewiesen werden, weil sie angeblich „ins Blaue hinein“ gestellt worden seien. Dabei entspricht es der ständigen Rechtsprechung des BGH, dass mit einem Beweisantrag zulässigerweise auch Tatsachen unter Beweis gestellt werden können, welche der Antragsteller lediglich vermutet oder für möglich hält.

Auch hier kann nicht nachvollzogen werden, warum der Gesetzgeber nach seinen massiven Einschnitten vor zwei Jahren bereits wieder tätig werden will. Mit der Fristsetzungsbefugnis des § 244 Abs. 6 StPO ist schließlich gerade erst ein neues Instrument entwickelt worden. Sollte die geplanten Änderungen tatsächlich in Gesetzesform gegossen werden, wäre ein richterlicher Missbrauch nicht unwahrscheinlich – insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine revisionsrechtliche Kontrolle nicht möglich wäre und sich Gerichte „Scheinbeweisanträgen“ bereits jetzt problemlos erwehren können


5. Vorabentscheidungsverfahren für Besetzungsrügen (Änderung der §§ 222b, 338 Abs. 1 StPO)

Besetzungsrügen sollen künftig vor oder zu Beginn einer Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht beschieden und auf diese Weise der Revision entzogen werden. Für Strafverfahren im ersten Rechtszug vor den Land- und Oberlandesgerichten soll für Besetzungsrügen eine Frist von einer Woche ab der Zustellung der Besetzungsmitteilung gelten, die auch bereits mehrere Wochen vor dem Beginn der Hauptverhandlung erfolgen kann. Wird die Besetzungsrüge fristgerecht erhoben, soll zunächst das Ausgangsgericht über den Einwand vorschriftswidriger Besetzung entscheiden. Im Fall der Nichtabhilfe soll in landgerichtlichen Verfahren das Oberlandesgericht und in oberlandesgerichtlichen Verfahren der BGH über die Besetzungsrüge entscheiden. Diese Entscheidung soll abschließend sein. Die Revision kann darauf nicht mehr gestützt werden. Wird die Besetzung innerhalb der Frist nicht angegriffen, ist das Rügerecht präkludiert. Die Rüge kann dann ebenfalls nicht mehr mit der Revision erhoben werden. Kann das Gericht die Besetzung – etwa aus organisatorischen Gründen – erst zu Beginn der Hauptverhandlung mitteilen, verbleibt es im Ausgangspunkt bei der bisherigen Regelung: Das Gericht kann auf Antrag die Hauptverhandlung unterbrechen (§ 222a Abs. 2 StPO). Auch in diesem Fall soll die einwöchige Rügefrist gelten. Wird die Besetzung sodann fristgerecht gerügt, entscheidet die nächste Instanz – gegebenenfalls sodann parallel zur laufenden Hauptverhandlung – über den Besetzungseinwand abschließend.

Die geplante Neuregelung versetze den Vorsitzenden durch die Wahl des Zeitpunkts der Besetzungsmitteilung in die Lage, etwaige Besetzungsrügen schon (deutlich) vor Beginn der Hauptverhandlung abschließend klären zu lassen. Die Überprüfung des Rechts auf den gesetzlichen Richter werde dadurch der revisionsrechtlichen Kontrolle weitestgehend entzogen.

Kritik: Nicht klar wird, was die erneute Reform an dieser Stelle bezwecken will. Denn die Besetzungsrüge basiert auf dem grundgesetzlich gesicherten Recht auf den gesetzlich bestimmten Richter und ist einer der Eckpfeiler unseres Rechtsstaates. Dass dieses Prinzip einer revisionsrechtlichen Kontrolle entzogen werden soll, kann nicht überzeugen. In der Praxis ist eine Rechtszersplitterung durch die weitreichende Entscheidungszuständigkeit der Oberlandesgerichte zu befürchten. Die Folge dürften voraussichtlich mehr Verfassungsbeschwerden gegen die Vorabentscheidung und damit auch eine fortdauernde Unsicherheit des Tatrichters über die Richtigkeit der Gerichtsbesetzung sein.

Was bei den Befangenheitsanträgen ausgeführt wurde, gilt auch an dieser Stelle: Denn auch Besetzungsrügen werden in der Praxis nur in circa zwei Prozent aller Verfahren angebracht und rechtfertigen somit an sich keinen Handlungsbedarf – erst recht deshalb nicht, wenn man dazu noch berücksichtigt, dass der Revisionserfolg von Verfahrensrügen praktisch nicht vorhanden ist.
Rein tatsächlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Oberlandesgerichte und der BGH entsprechend ausgelastet sind und mit kurzfristigen Entscheidungen so nicht immer gerechnet werden kann.


6. Harmonisierung der Unterbrechungsfristen mit Mutterschutz und Elternzeit (Anpassung des § 229 StPO)

Zur Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einerseits sowie zur Verhinderung des „Platzens“ von Prozessen andererseits sollen die Fristen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung mit den Schutzfristen des vor- und nachgeburtlichen Mutterschutzes harmonisiert werden. Eingeführt werden soll eine Hemmung des Laufes der Unterbrechungsfristen gemäß § 229 Abs. 1 und 2 StPO für die Dauer des nachgeburtlichen sowie des (in Anspruch genommenen) vorgeburtlichen Mutterschutzes. Hemmungsbeginn soll bei Inanspruchnahme des nachgeburtlichen Mutterschutzes der voraussichtliche Tag der Entbindung sein, wobei die Dauer der Hemmung bei späterer Entbindung um die Zeit zwischen voraussichtlichem und tatsächlichem Termin verlängert wird. Wird auch vorgeburtlicher Mutterschutz in Anspruch genommen, soll die Hemmung mit dessen Beginn einsetzen. Die (gehemmten) Unterbrechungsfristen sollen dann – parallel zu § 229 Abs. 3 StPO – frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung enden. Über die Einführung von Hemmungstatbeständen bei Mutterschutz sollen weitere neue Gründe für eine maximal zweimonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung – zum Beispiel für insbesondere von Vätern in Anspruch genommene kürzere Elternzeiten – im Gesetz verankert werden.

Kritik: Hier muss zunächst noch einmal klargestellt werden, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von enormer Wichtigkeit und damit besonders schutzbedürftig ist. Mit dem Gesetzesentwurf wird jedoch ein enormes Spannungsfeld zwischen diesen unzweifelhaft wichtigen Prinzipien und der Konzentrationsmaxime sowie dem Beschleunigungsgrundsatz begründet. Denn in der Praxis sind Unterbrechungen von bis zu einem halben Jahr zu erwarten. Ob dies in die richtige Richtung geht, ist zu bezweifeln. Denn ein Beschuldigter darf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist erwarten. Dazu stellen sich weitere Detailfragen, etwa wie vorgegangen werden soll, wenn der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt.


7. Erweiterung der DNA-Analyse (Änderung des § 81e Abs. 2 StPO)

Um Anhaltspunkte für das Aussehen eines unbekannten Spurenlegers zu gewinnen, soll durch Änderung des § 81e Abs. 2 StPO ermöglicht werden, dass auch an aufgefundenem, sichergestelltem und beschlagnahmtem Material molekulargenetische Untersuchungen vorgenommen werden können, die die Bestimmung der Haar-, Augen und Hautfarbe sowie des Alters des Spurenlegers mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ermöglichen.

Kritik: Kein Punkt der geplanten Reform muss sich so viel Kritik gefallen lassen wie die Erweiterung der DNA-Analyse. Dabei stehen vor allem grundrechtliche Bedenken aufgrund der Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen im Vordergrund, aber auch praktische Bedenken werden in zahlreicher Form angebracht. Die Diskussion ist dabei keineswegs neu. Bereits vor zwei Jahren wurden ähnliche Argumente hinsichtlich der Regelung des „DNA-Beinahetreffers“ sowie der Online-Durchsuchung vorgebracht.

So stelle bereits die geltende Fassung des § 81e StPO bezogen auf „einfache“ DNA-Beweise das Strafverfahren vor erhebliche Probleme hinsichtlich der Bewertung von Aussagekraft, Fehleranfälligkeit und Genauigkeit der molekulargenetischen Untersuchung. In der Praxis würden die hohen Laborwahrscheinlichkeiten regelmäßig nicht erreicht. Weiter sei zu berücksichtigen, dass gut identifizierbare DNA-Spuren eben nur gut identifizierbare Spuren seien, die im Zusammenhang mit dem möglichen Tatverlauf, vor dem Hintergrund weiterer Ermittlungsergebnisse und Beweise und unter Infragestellung möglicherweise frühzeitig gefasster Ermittlungshypothesen bewertet werden müssten. Sie würden aber nichts darüber aussagen, wie die Spuren an den Tatort, die Tatwaffe oder den/die Geschädigte gelangt seien. Den am Strafverfahren Beteiligten fehle zudem zumeist die wissenschaftliche Fachkenntnis, DNA-Spuren und die daraus gewonnenen Informationen sachgerecht zu interpretieren.

Die vorgesehene erweiterte DNA-Analyse werfe sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht neue Probleme auf. Bei der Bestimmung phänotypischer Merkmale wie der Augen-, Haut- und Haarfarbe seien die erzielten Wahrscheinlichkeiten geringer als beim bisher geltenden DNA-Beweis. Die Wahrscheinlichkeiten bei der Bestimmung der Augenfarbe würden z.B. einerseits von der jeweiligen Population abhängen, andererseits von der bestimmten Augenfarbe. Für die Bestimmung der Hautfarbe würden Wahrscheinlichkeitswerte von 84 bis 98 Prozent angegeben, die Vorhersage der Haarfarbe gelinge nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent – mithin Werte, die deutlich unterhalb jenen liegen würden, die bei Vorliegen einer guten DNA-Spur im DNA-Vergleich erzielt würden.

Vor allem bei der Haut- und Haarfarbe eines Menschen handele es sich um äußere Merkmale, die einerseits einem natürlichen Veränderungs- und Alterungsprozess unterlägen, zum anderen problemlos nach Belieben verändert werden könnten – und von einem nicht geringen Anteil der Bevölkerung auch regelmäßig verändert würden. Die genetische Information indessen würde den wahrscheinlichen Zustand eines Teenagers ungeachtet möglicher (auch künstlicher) Sonnenbräunung, Schminke, altersbedingtem Haarausfall und -verfärbung (blonde Haare werden i.d.R. dunkler) oder -ergrauung, krankhafte Pigment- oder Hautveränderung, Haarfärbung etc. beschreiben.

Dies wecke ernste Zweifel an der kriminalistischen Effektivität der DNA-Phänotypisierung zu Fahndungszwecken. Denn nur dann, wenn kein konkreter Verdacht gegen eine Person mithilfe des DNA-Identifizierungsmusters bestätigt werden könne (und auch der Abgleich mit der DNA-Analysedatei ergebnislos bliebe), sei die Phänotypisierung überhaupt sinnvoll, um mit ihrer Hilfe einen großen Kreis potenziell Tatverdächtiger einzugrenzen.

Selbst wenn man davon ausgehe, dass keine erhebliche Veränderung der per DNA-Analyse identifizierten äußeren Merkmale durch Alterung, Krankheit oder künstliche Eingriffe stattgefunden habe, sei dies wiederum nur dann kriminalistisch sinnvoll, wenn die Phänotypisierung auf den Träger von Minderheitenmerkmalen hinweise. Ergebe die Auswertung der DNA-Spur aber, dass der Spurenleger mit hoher Wahrscheinlichkeit der Bevölkerungsmehrheit angehöre, so enge dies den Kreis der potenziell Verdächtigen eben nicht ausreichend ein. Ergebnisse seien ermittlungstechnisch also nur zu verwerten, wenn sie auf Minderheiten hindeuten würden

Nicht nur dies führe zu erheblichen grundrechtlichen Bedenken. Darüber, dass die Auswertung genetischen Spurenmaterials zum Zwecke der Strafverfolgung in den grundrechtlich geschützten Kernbereich privater Lebensführung eingreife und von daher nur im überwiegenden Allgemeininteresse und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgrund eines Gesetzes zulässig sei, herrsche Einigkeit. Als unstrittig könne auch gelten, dass die Feststellung von Erbanlagen, Charaktereigenschaften, Krankheitsanlagen oder psychischen Dispositionen in den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit eingreifen würde und von daher unzulässig sei. Gleichwohl greife die erweiterte DNA-Analyse auf den codierenden Bereich der DNA zu, der bislang – wenn auch in § 81e StPO nicht explizit genannt – der strafrechtlichen Ermittlung verschlossen blieb.

Damit aber würde genau jener kleine Bereich der DNA, der die Erbinformationen enthalte, die typischerweise zum unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit gehören würde, für die forensische Forschung eröffnet und zum Ermittlungsfeld erklärt werden. Der damit einhergehende Grundrechtseingriff sei angesichts fraglicher Ermittlungsvorteile nicht zu rechtfertigen.

8. Bekämpfung des Einbruchdiebstahls (Änderung des § 100a Abs. 2 Nr. 1 lit. j StPO)

Bei Verdacht insbesondere eines serienmäßig begangenen Einbruchdiebstahls in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung (§ 244 Abs. 4 StGB) soll den Ermittlungsbehörden die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation ermöglicht werden (TKÜ-Befugnis). Der Katalog des § 100a Abs. 2 StPO soll um den Einbruchdiebstahl in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung (§ 244 Abs. 4 StGB) erweitert werden. In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass die Anordnung einer TKÜ-Maßnahme in diesen Fällen voraussetzt, dass die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Es soll dabei herausgestellt werden, dass dies insbesondere bei serienmäßiger Begehung der Fall sein kann und dass eine Einzeltat, bei der nichts Wertvolles gestohlen wurde und die Privatsphäre der Geschädigten nicht intensiv beeinträchtigt wurde, eher nicht „im Einzelfall schwer wiegt“. Die Regelung soll zunächst auf fünf Jahre befristet sein und anschließend evaluiert werden.

Kritik: Hier wird nicht klar – und vom Gesetzesentwurf auch nicht dargelegt –, wie eine Überwachung der Telekommunikation effektiv zur Aufklärung von Wohnungseinbruchs-diebstählen beitragen soll. Entsprechende Korrelationen sind nicht erkennbar und scheinen auch nicht wahrscheinlich. Hier handelt es sich um einen Vorschlag ins Blaue hinein, was sich insbesondere daraus ergibt, dass eine Evaluierung erst fünf Jahre später durchgeführt werden soll. Dies ist mit einem derart schwerwiegenden Grundrechtseingriff jedoch nicht vereinbar. Zumal eine Erweiterung des § 100a Abs. 2 StPO die Schwelle der Beurteilung, welche Straftaten als schwer zu bewerten sind, immer weiter absenkt.


9. Qualitätsstandards für Gerichtsdolmetscher (Änderung des § 189 GVG sowie Schaffung eines Gerichtsdolmetschergesetzes)

Die Standards für die Beeidigung von Gerichtsdolmetschern sind in den Ländern sehr unterschiedlich ausgestaltet. Die Anforderungen sowohl an die persönlichen als auch an die fachlichen Voraussetzungen unterscheiden sich erheblich. Es sollen nunmehr einheitliche Standards festgelegt werden. Dies soll durch ein auf Grund der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes neu zu erlassendes Gerichtsdolmetschergesetz geschehen. Eine Abweichung der Länder von diesem Standard wäre dann nicht mehr möglich. Die Pflichten, denen ein Gerichtsdolmetscher nachkommen muss – namentlich die gewissenhafte und unparteiische Ausführung der Tätigkeit und Verschwiegenheit –, sollen gesetzlich festgelegt und zudem ein bundeseinheitliches, öffentliches Verzeichnis aller beeidigten Dolmetscher geschaffen werden. Auch die Zuständigkeit für die öffentliche Bestellung und allgemeine Beeidigung der Dolmetscher und Übersetzer sowie deren persönlichen Voraussetzungen werden normiert. Schließlich sollen fachliche Standards im Sinne des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 12.03.2004 über die Richtlinie zur Durchführung und Anerkennung von Prüfungen für Übersetzer/innen, Dolmetscher/innen und Gebärdendolmetscher/innen normiert werden.

Kritik: Dieses Reformvorhaben wird von allen Seiten begrüßt. Einheitliche Qualitätsstandards sind nach den Erfahrungen aus der Praxis zwingend notwendig. Hier bleibt abzuwarten, ob diese durch die geplanten Änderungen in der gewünschten Form erreicht werden können. Definitiv stellt dieser Vorstoß jedoch einen Schritt in die richtige Richtung dar.


10. Gesichtsverhüllung vor Gericht (Änderung der § 176 GVG, §§ 68 und 110b StPO und § 10 des Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetzes)

Das Verbot einer Gesichtsverhüllung von Verfahrensbeteiligten in Gerichtsverhandlungen soll gesetzlich geregelt werden. Es soll gesetzlich normiert werden, dass Verfahrensbeteiligte in Gerichtsverhandlungen ihr Gesicht weder ganz noch teilweise verdecken dürfen. Von dem gesetzlichen Verbot werden Ausnahmen für Fälle zugelassen, in denen das Verbot zur Identitätsfeststellung oder zur Beurteilung des Aussageverhaltens nicht notwendig ist, sowie zum Schutz einzelner Personengruppen, wie zum Beispiel im Falle des Zeugenschutzes. Es soll ausdrücklich geregelt werden, dass ein Verbot für Verfahrensbeteiligte in Gerichtsverhandlungen besteht, ihr Gesicht ganz oder teilweise zu verhüllen. Über das Vorliegen einer gesetzlichen Ausnahme entscheidet das Gericht.

Schutzzweck sei die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet werde. Hierbei gehe es insbesondere um die Aufrechterhaltung der Ordnung der gerichtlichen Verhandlung und damit auch um die Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit sowie ihrer Kontrolle. Näher präzisiert werden könne die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege durch die ausdrücklich genannten Zwecke der Identitätsfeststellung und der Beweiswürdigung.

Kritik: Die fehlende Praxiskenntnis des Gesetzgebers und der Reformeifer in völlig unbedeutenden Punkten wird vor allem an diesem Eckpunkt deutlich. So geht der Entwurf davon aus, dass zu erwarten sei, dass Fallkonstellationen mit vollverschleierten Personen im Gerichtssaal angesichts der beachtlichen Zahl von Zuwanderern aus Kulturkreisen, in denen eine solche Verschleierung nicht unüblich ist, vermehrt auftreten werden. Dies ist praktisch das Eingeständnis, dass eine entsprechende Problematik aktuell überhaupt nicht existiert – vielmehr wird nur eine nicht begründete Vermutung aufgestellt. Schaut man sich die tatsächlichen Zahlen der Gesichtsverhüllungen in Deutschland an, die auf kulturellen oder religiösen Gründen beruhen, so kommen diese weitaus seltener vor als allgemein angenommen. Zudem können richterliche Anordnungen, eine Gesichtsverhüllung zu entfernen, auch auf § 176 GVG in der geltenden Fassung gestützt werden.


11. Informationsbefugnis für Bewährungshilfe / Führungsaufsicht (Ergänzung des § 481 Abs. 1 S. 3 StPO um die Führungsaufsichtsstellen und Streichung des Wortes „dringend“ vor „Gefahr“)

Im Anschluss an die mit der Reform des Jahres 2017 vorgenommene Änderung des § 481 StPO sollen weitere Klarstellungen erfolgen. Dies entspricht einem Beschluss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister aus dem Jahr 2018. Es soll klargestellt werden, dass neben den Bewährungshelfern auch Führungsaufsichtsstellen zu einer unmittelbaren Übermittlung personenbezogener Daten an die Polizeibehörden befugt sind, wenn eine rechtzeitige Übermittlung durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht gewährleistet ist. Bislang werden nur die Bewährungshelfer ausdrücklich genannt.

Außerdem soll die Übermittlung zur Abwehr jeder Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut erlaubt sein, eine „dringende“ Gefahr soll nicht mehr ausdrücklich gefordert, das Merkmal „dringend“ also gestrichen werden. So werde eine eindeutige und umfassende gesetzliche Grundlage für die Zusammenarbeit mit Polizei und anderen Verwaltungsbehörden im Rahmen runder Tische geschaffen.

Kritik: Die Strafverteidigervereinigungen monieren, dass die zunehmende „Verpolizeilichung“ der sogenannten sozialen Dienste der Justiz (hier: Bewährungshilfe/Führungsaufsicht) bereits grundsätzlich zu kritisieren sei, nicht nur, aber insbesondere auch wegen der damit zwangsläufig einhergehenden Entgrenzung der Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe personenbezogener – und nicht selten hochsensibler – Daten. Dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) werde man nicht dadurch gerecht, dass immer weitergehende Eingriffe schlicht „vergesetzlicht“ werden: Es seien immer auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit) zu beachten.

Die in naher Vergangenheit mehrfach ausgeweiteten Befugnisse der Führungsaufsichtsstellen seien in § 463a StPO abschließend geregelt, gerade auch in puncto Kooperation mit der Polizei. Der Polizei daneben zusätzliche eigene informationelle Kompetenzen im Rahmen der Führungsaufsicht einzuräumen, sei auch deshalb abzulehnen. Für die darüber hinaus geforderte Erweiterung der Befugnisse zur Datenweitergabe durch Bewährungshilfe/Führungsaufsicht sei ein Bedarf nicht zu erkennen; eine Begründung liefere die Bundesregierung ebenfalls nicht – vielmehr beschränke sie sich auf allzu pauschale Ausführungen.

12. Bild-Ton-Aufzeichnung einer richterlichen Vernehmung (Änderung der §§ 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 255a Abs. 2 StPO)

Die Möglichkeiten der Aufzeichnung richterlicher Vernehmungen im Ermittlungsverfahren sollen auf zur Tatzeit bereits erwachsene Opfer von Sexualstraftaten ausgeweitet werden. Nach gegenwärtiger Rechtslage soll bei Kindern und Jugendlichen, die Opfer bestimmter schwerer Straftaten (zum Beispiel sexueller Missbrauch) geworden sind, nach § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO eine richterliche Vernehmung eines Zeugen im Ermittlungsverfahren audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn dadurch ihre schutzwürdigen Interessen besser gewahrt werden können. Diese Regelung gilt seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 14.03.2013 auch für erwachsene Opfer der genannten Straftaten, die zur Tatzeit minderjährig waren. Diese Regelung soll auf zur Tatzeit bereits erwachsene Opfer ausgeweitet werden. Darüber hinaus soll die im geltenden Recht vorgesehene Soll-Regelung der Videovernehmung für Opfer von Sexualstraftaten durch eine Muss-Regelung ersetzt werden, die allerdings im Wege einer „doppelten Einverständnislösung“ an die Zustimmung des betroffenen Verletzten gebunden sein soll. Danach hat eine Aufzeichnung der Vernehmung zu erfolgen, wenn damit die schutzwürdigen Interessen des Opfers besser gewahrt werden können und das Opfer der Aufzeichnung vor der Vernehmung zustimmt. Eine Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung nach § 255a StPO soll nur ausgeschlossen sein, wenn das Opfer unmittelbar nach der Vernehmung ausdrücklich widerspricht und der Vorführung auch nicht im weiteren Verlauf des Verfahrens zustimmt.

Die Vorschrift des § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO zur richterlichen Vernehmung mit Videoaufzeichnung soll auch auf (zur Tatzeit) erwachsene Opfer von Sexualstraftaten erweitert werden. Eine Aufzeichnung der Vernehmung von Opfern von Sexualstraftaten muss in den in § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO genannten Fällen erfolgen, wenn die darin bereits genannten Voraussetzungen vorliegen und das Opfer der Aufzeichnung der Vernehmung zustimmt. Die Vorführung der Aufzeichnung einer Vernehmung von Opfern von Sexualstraftaten in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 StPO soll nur dann ausgeschlossen sein, wenn das Opfer unmittelbar nach seiner Vernehmung der Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung widersprochen hat und der Vorführung auch nicht im weiteren Verlauf des Verfahrens zustimmt. Mit der Neuregelung könne dem Schutzbedürfnis von Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vor belastenden Mehrfachvernehmungen Rechnung getragen werden, das ungeachtet des Alters bestehe.

Kritik: Der Gesetzesentwurf sieht sich dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit ausgesetzt. Denn während im Hinblick auf Kinder und Jugendliche einerseits auf „bestimmte schwere Straftaten“ (z.B. sexueller Missbrauch) abgestellt werde, bleibe unklar, um welche Taten es sich dann bei „zur Tatzeit bereits erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten“ handeln solle. Andererseits verweise § 58a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO auf § 255a Abs. 2 StPO, der gerade nicht nur Sexualstraftaten erfasse.

Gerade dieses Kapitel der Eckpunkte sei ein Beleg für die beständige Ausweitung eines zunehmend problematischen Sonderprozessrechts für Sexualstraftaten. Aus diesem Grund sei es an der Zeit, diese Verwerfungen zurückzudrehen. Zudem sei die noch weitergehende Forderung, ausschließlich dem „Opfer“ das Recht einzuräumen, der ersetzenden Einführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung zu widersprechen, andernfalls zukünftig eine Pflicht zur Einführung bestehen soll, abzulehnen.

C. Fazit zur geplanten Modernisierung des Strafverfahrens

Unter dem Strich muss festgehalten werden, dass der absolute Großteil der angestrebten Änderungen abzulehnen ist. So kann überwiegend schon gar kein Reformbedarf erkannt werden. Punkte die dringend einer Änderung oder Klarstellung bedürfen, sind dagegen völlig ausgeklammert worden. So ist der Gesetzesentwurf einmal mehr eine verpasste Chance. Stattdessen wird unter dem Deckmantel der Modernisierung und Vereinfachung massiv in die Rechte von Beschuldigten eingegriffen. Dabei legt der Gesetzgeber eine merkwürdige Vorstellung zu Grunde: Alle Strafverfahren dauern zu lange, alle Verteidiger stellen unnötige Anträge.

Rechtsstaatliche Grundsätze werden über Bord geworfen, alles muss schneller und effektiver werden. Sinn und Zweck eines Strafverfahrens ist es jedoch nicht, Beschuldigte so schnell wie möglich „abzufertigen“. Vielmehr muss sichergestellt bleiben, dass eine hinreichende Verteidigung in einem fairen Prozess möglich ist. In diesem Zusammenhang setzt die Reform eine gefährliche Tendenz nahtlos fort, die nach den massiven Änderungen vor zwei Jahren noch immer kein Ende gefunden hat.

So bleibt nur die Hoffnung, dass die Eckpunkte und der Gesetzesentwurf noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden. Zu viel Optimismus sollte man sich an dieser Stelle jedoch besser nicht leisten – stattdessen muss man den Änderungen in der Praxis leider wohl in absehbarer Zeit in die Augen schauen. Bis dahin bleibt abzuwarten, ob sich die dargestellten Befürchtungen bestätigen.

Dies ist eine Vorabveröffentlichung des in Kürze im Deubner Verlag erscheinenden Beitrags (mit RA Fabian Bödecker, Witten).