Neuregelung der Pflichtverteidigung

Neuregelung der Pflichtverteidigung – eine verpasste Chance?

Zum Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (Pflichtverteidigung). Mit diesem gehen zahlreiche Neuerungen, insbesondere betreffend die §§ 140 ff. StPO, einher.

Seit vielen Jahren wird die bestehende Gesetzeslage kritisiert und eine grundlegende Reform gefordert, um das Institut der Pflichtverteidigung effektiver und vor allem transparenter zu gestalten. Dennoch kommt der vorgelegte Entwurf wohl alles andere als freiwillig. Vielmehr steht der Gesetzgeber aufgrund der europäischen „Legal-Aid“-Richtlinie, die den Bürgern in den Mitgliedstaaten den Zugang zur Verteidigung vor Gericht stärken soll, erheblich unter Druck. Denn diese muss bis zum 25.05.2019 umgesetzt werden.

Geplante Änderungen

  • Das Gesetz verwendet nun einheitlich den Begriff der „notwendigen Verteidigung“ und normiert, wann ein solcher Fall vorliegt und bohrt den Katalog des § 140 StPO entsprechend auf.
  • Der völlig neue geschaffene § 141 StPO sieht nun ein eigenes Antragsrecht des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers vor. Eine anwaltliche Mitwirkung soll zudem notwendig sein, sobald eine Vernehmung oder Vorführung des Beschuldigten seitens der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde. Über den Antrag des Beschuldigten entscheidet sodann das zuständige Gericht.
  • Ähnlich einer Prozesskosten- bzw. Beratungshilfe sollen Beschuldigte in Zukunft schon vor der ersten Vernehmung einen staatlich finanzierten Pflichtverteidiger gestellt bekommen, wenn der mutmaßliche Straftäter entsprechende Mittel nicht selbst aufbringen kann. Die bisherige Rechtslage sieht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich erst im Prozess beziehungsweise während der Untersuchungshaft vor.
  • Gänzlich neu strukturiert wurde zudem § 142 StPO, der die Auswahl des bestellenden Pflichtverteidigers normiert.
  • Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens (neuer § 143 StPO).
  • Die Voraussetzungen eines Verteidigerwechsels regelt nun § 143a StPO. Danach ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Weiter ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte, dem ein anderer als der von ihm bezeichnete Verteidiger beigeordnet wurde oder dem zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt werden konnte, innerhalb von zwei Wochen nach der Bestellung beantragt, ihm einen anderen von ihm bezeichneten Verteidiger zu bestellen, soweit dem kein wichtiger Grund entgegensteht („Umpflichtung“).
  • Zudem wurde das Institut der „Sicherungsverteidigung“ über § 144 StPO integriert. So können dem Beschuldigten zu seinem gewählten oder einem gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger bis zu zwei Pflichtverteidiger zusätzlich bestellt werden, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich sein soll.

Reaktionen

Das Gesetz wird von vielen Seiten als ein Schritt in die richtige Richtung bezeichnet – aber wohl nicht mehr und nicht weniger. Entsprechend ist auch die Kritik unüberhörbar. Vor allem der Begriff der „verpassten Chance“ macht die Runde. Zwangsläufig gehen die Meinungen zwischen den Beteiligten ganz erheblich auseinander.

Der Deutsche Richterbund etwa unterstützt den Gesetzentwurf zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung in weiten Teilen. Er ist allerdings auch der Auffassung, dass die notwendige Verteidigung nicht weiter gehen sollte, als europarechtlich geboten, und fordert klarere und für die Praxis einfacher zu handhabende Regelungen. Insbesondere sei die mit dem Gesetzentwurf in Verbindung mit § 141 Abs. 1 und Abs. 2 StPO-Entwurf verbundene allgemeine Ausweitung auf das Ermittlungsverfahren von der Richtlinie nicht geboten und abzulehnen.

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßt den Referentenentwurf grundsätzlich, sieht in verschiedenen Punkten allerdings noch Nachbesserungsbedarf. So sei ein Fall notwendiger Verteidigung grundsätzlich auch bei Taten während einer Bewährungszeit anzunehmen und ebenso in Prozessen, in denen nicht beigeordnete Nebenklagevertreter oder Opferbeistände agieren. Weiter lehnt er die vorgesehene Einschränkung des „Verteidigers der ersten Stunde“ wegen einer gegenwärtigen Gefährdung von Freiheit, Leib oder Leben einer Person oder einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens unter rechtsstaatlichen Aspekten ab. Der Verband fordert zudem, die Richterschaft (und entgegen der künftigen Überlegung des Entwurfs für Eilfälle auch die Staatsanwaltschaft) von der rechtsstaatlich nicht unbedenklichen Pflicht eines individuellen Auswahlermessens zur Bestellung von Pflichtverteidigern zu befreien. Er schlägt hier ein rollierendes System beizuordnender Verteidiger analog den Hilffschöffenlisten vor, um das bisherige zu ersetzen. Darüber hinaus sieht der DAV in der vorgesehenen Implementierung eines Sicherungsverteidigers einen Systemwechsel, den er ablehnt. Er kritisiert sowohl die Benennung als auch die Ausgestaltung dieser Figur. Der Berliner Strafrechtler Jasper Graf von Schlieffen betont in diesem Zusammenhang, dass es klare Regeln und vollständige Transparenz brauche. Zumindest eine verbindliche Liste bei den Gerichten hätte der Entwurf seines Erachtens vorschreiben sollen. „Mit dem Vorschlag wird das Transparenzproblem nicht zielführend angegangen“, kritisiert auch Professor Dr. Matthias Jahn, Inhaber des Lehrstuhls für u.a. Strafprozessrecht an der Uni Frankfurt am Main und Richter am Oberlandesgericht.

Baden-Württembergs Justizminister Guido Wolf befürchtet eine erhebliche Verlängerung der Dauer von Ermittlungs- und Strafverfahren und sieht die Ziele einer Beschleunigung und Vereinfachung konterkariert. Er bescheinigt dem Gesetzgeber „Übereifer“ und kritisiert vor allem, dass der Gesetzesentwurf weit über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehe. Folge sei eine enorme finanzielle Mehrbelastung sowie ein drastischer Rückgang von Geständnissen im Ermittlungsverfahren. Ohnehin regt sich gerade auf Länderseite (z.B. Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg) breiter Widerstand gegen den Entwurf aufgrund der höheren Arbeitsbelastung für die Behörden und dem finanziellen Mehraufwand. Hamburgs Justizsenator Till Steffen etwa geht von zusätzlichen Kosten in Höhe von 4 Mio. Euro aus.

Stellungnahme

Der Referentenentwurf zur Neuregelung der Pflichtverteidigung ist in weiten Teilen leider nur eine Mogelpackung. Einmal mehr hat es der Gesetzgeber verpasst, sich aus der Praxis des Strafprozesses ergebende Probleme durch eine Neuregelung effektiv zu lösen. Zwar sind einige Ansätze durchaus begrüßenswert (insbesondere die Möglichkeit der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für bedürftige Bürger im Ermittlungsverfahren), an andere – wirklich wichtige – Probleme hat man sich jedoch erneut nicht herangewagt. So ist lediglich ein kleiner Schritt gelungen, der Großteil des Weges steht jedoch noch bevor.

Besonders deutlich wird dies bei der Neuregelung des Bestellungsverfahrens. Hier stellt sich die Frage, was der vorgelegte Entwurf für einen Mehrwert besitzt. Denn noch immer entscheiden die Richter völlig frei, wen sie zum Pflichtverteidiger bestellen. So soll entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder eben ein anderer Anwalt ausgewählt werden, der sich bereit erklärt hat, Pflichtverteidigungen zu übernehmen – die fachliche Kompetenz spielt nach wie vor keine Rolle.

Um es klar und deutlich zu sagen: Mauscheleien, die oftmals schon den Anschein der Korruption hervorrufen können, und vollständige Intransparenz werden aller Voraussicht nach weiter an der Tagesordnung bleiben. So ist es ein offenes Geheimnis, dass zahlreiche Gerichte gerne ihre Lieblingsanwälte auswählen. Die Auswahlkriterien reichen dabei von fehlender Gegenwehr (im Sinne eines „einfachen Verfahrens für die Richter“) bis zur Mitgliedschaft im selben Golfverein. Diese Schattenpraxis ist seit Jahren bekannt und wird völlig zurecht von den verschiedenen Interessenverbänden der Anwaltschaft kritisiert. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, der Referentenentwurf lässt ihn dennoch unverständlicherweise gänzlich unberücksichtigt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine knapp 300 Seiten starke Studie zur Pflichtverteidigerbestellung von Professor Matthias Jahn. Daran schimpfen Anwälte über ihre Kollegen als „Gerichtsnutten“ oder „Robenständer“. Drastische Worte, die in vielen Situationen die Begebenheiten jedoch durchaus passend beschreiben. Eine ehemalige Strafrichterin an einem Amtsgericht gab in diesem Rahmen auf Nachfrage an, dass es Verteidiger gäbe, die man lieber bestelle. Allerdings habe das nichts damit zu tun, wie harmonisch das Verhältnis dieser Verteidiger zum Gericht sei, sondern eher damit, für wie fähig man sie erachte: „Die Anwälte, die es dem Gericht mit einer Konfliktverteidigung (gemeint ist wohl eher eine ,konfrontative Verteidigung‘) schwer machen, schaden in aller Regel auch den Angeklagten und dem Verfahrensablauf, sprich der Wahrheitsfindung selbst.“ Eine Bewertung dieser Aussagen sei jedem selbst überlassen – das Problem ist jedoch augenscheinlich.

Ein Kontrollmechanismus ist geboten, Lösungsvorschläge müssten intensiver verfolgt werden. Jahn hat in seiner Studie die Praxis im Nachbarland Österreich verfolgt, wo das Auswahlverfahren nicht bei den Gerichten, sondern bei den Anwaltskammern liegt. Eine interessante Idee, die hierzulande jedoch unverständlicherweise ausgerechnet von der Bundesrechtsanwaltskammer blockiert wird. Der Verdacht liegt nahe, dass man nach dem Total-Desaster rund um das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) nicht erneut Verantwortung übernehmen möchte.

Doch auch darüber hinaus vermag der Gesetzesentwurf nicht wirklich zu überzeugen. Denn dieser beschränkt sich doch in großen Teilen darauf, die ständige Rechtsprechung in Gesetzesform zu gießen. Dies gilt sowohl für die „neuen“ Fälle des § 140 StPO, als auch für das Bestellungsverfahren in § 142 StPO. Ferner birgt auch das Ende der Pflichtverteidigung sowie der Verteidigerwechsel insoweit kaum Neuigkeiten.

Für sich spricht die Kritik der Länder an dem Entwurf, die sich vor allem auf die geplante Ausweitung der Pflichtverteidigung (Stichwort Prozesskostenhilfe) konzentriert. Diese mit einem – verglichen zu den Gesamt-Länderhaushalten – finanziellen Mehraufwand zu begründen, lässt bereits tief blicken. Dann aber noch als Argument anzuführen, es sei zu befürchten, dass die Zahl der Geständnisse wohl stark abnehmen werde, weil Rechtsbeistände grundsätzlich dazu raten würden, keine Angaben vor Akteneinsicht zu machen, spottet wirklich jeder Beschreibung. Dies ist bei Licht betrachtet nichts anderes, als ein Angriff auf die „Grundrechte“ eines Beschuldigten im deutschen Strafverfahren und führt wieder zurück zu der Kritik an den bereits besprochenen „Robenständern“. Denn das Rechtsverständnis, das einer solchen Argumentation zu Grunde liegt, zeigt eindrucksvoll, dass ein Pflichtverteidiger doch bitte nur „begleiten“ und nicht wirklich agieren soll.

So bleibt als Fazit nur zu hoffen, dass sich im Rechtsausschuss des Bundestages noch einiges tut (oder bezogen auf die Erweiterung der Pflichtverteidigung eben gerade nicht). Die Wetteinsätze darauf sollten jedoch besser im einstelligen Euro-Bereich gewählt werden.

Dieser Beitrag ist auch als Rechtstipp auf der Plattform anwalt.de veröffentlicht worden.