Ich habe mit dem Kollegen Rechtsanwalt Werner Siebers kürzlich ein interessantes Gespräch zum Themenkomplex „Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht“ geführt, welches demnächst im Regionalmagazin Stadtglanz (Ausgabe 18, März 2021) erscheinen wird. Vorab schon einmal im Volltext hier:
Die Region Braunschweig/Wolfsburg ist von dem Problem der Jugendkriminalität zwar nicht in einem Ausmaß betroffen wie z.B. Berlin, eine Bestandsaufnahme aus anwaltlicher Sicht lohnt gleichwohl. Über die Generation Z und neuere Entwicklungen sprach Martin Voß mit Werner Siebers, einem von Braunschweigs dienstältesten Strafverteidigern.
MV: Werner, das Oberthema dieser Stadtglanz-Ausgabe lautet „Generation Z“. Du bist seit mittlerweile über 35 Jahren als Strafverteidiger tätig und hast in dieser Zeit auch unzählige junge Menschen verteidigt. Wie hat sich aus Deiner Sicht die Jugend in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Hat sie das überhaupt?
WS: Ich habe schon den Eindruck, dass sich im Laufe der 37 Jahre, die ich Strafverteidigung lebe, die Jugend und Jugendkriminalität merklich verändert hat, wobei das natürlich eine ausgesprochen subjektive Sichtweise ist. Hast Du nicht auch den Eindruck, dass sich insoweit viel geändert hat?
MV: Ich bin jetzt seit knapp 18 Jahren dabei. Verändert hat sich m.E. vor allem, dass die jungen Menschen oftmals viel früher erwachsen wirken als noch vor einigen Jahren, wobei das auch der veränderten vielfältigen medialen Beeinflussung liegen mag. Worin zeigt sich aus Deiner Sicht eine Veränderung?
WS: Es beginnt bei der Art der Delikte. Naturgemäß gab es früher keine Internet-Betrügereien, das Hochladen von kompromittierenden Fotos oder Stalking über soziale Medien. Aber auch die Jugendlichen, die Straftaten begehen, handeln heute oft anders als früher. So war es früher „normal“, wenn man sich geprügelt hat, dass aufgehört wurde, wenn erkennbar der Gegner unterlegen war. Heute sehe ich immer wieder Täter, die einfach nicht aufhören, sodass körperliche Auseinandersetzungen nicht selten damit enden, dass schwerste Verletzungen eingetreten sind, die möglicherweise sogar zum Tode führen.
MV: Meinst Du, dass auch – mal ganz allgemein gefragt – eine Veränderung bei den Sanktionen festzustellen ist? Es wird ja in der Bevölkerung oftmals kolportiert, dass das Jugendstrafrecht viel zu „lasch“ sei…
WS: Dem widerspreche ich eindeutig und immer wieder. Die nachwachsenden Jugendrichter sind im Durchschnitt keineswegs „milder“ als ihre teils langjährig tätigen Vorgänger, und, das Jugendgerichtsgesetz ist ein durchaus angemessenes Instrument, mit Straftaten junger Menschen umzugehen. Ein angemessenes Umgehen hat nämlich nicht immer etwas mit Härte und Dauer der Haft zu tun, im Gegenteil, ich glaube eher, Haft verdirbt eher als sie nutzt.
MV: Nicht umsonst wird das Jugendstrafrecht ja auch als „Erziehungsstrafrecht“ bezeichnet. Bei manchen älteren Jugendrichtern habe ich zuletzt allerdings den Eindruck gewonnen, dass sie mit der Zeit etwas „kauzig“, geradezu „muffelig“ werden…
WS: Das ist ganz unterschiedlich und mag auch daran liegen, dass bei einigen Gerichten – anders als früher – eine gewisse Fluktuation beim Wechsel der Richter festzustellen ist; und gerade die jungen Richter, die noch staatsanwaltschaftsnah denken, sind in der Anfangszeit nicht selten etwas, nun, sagen wir: „putzig“. Aber als Verteidiger gibt es ja Möglichkeiten, bei der Richterfortbildung aktiv mitzuwirken.
MV: Welche Möglichkeiten gibt es da konkret?
WS: Nun, von freundlicher Hilfe über rechtliche Hinweise bis zu Befangenheitsanträgen bei angehenden Konfliktrichtern gibt es diverse Möglichkeiten.
MV: Zurück zu den jungen Menschen und den Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Was könnte denn aus Deiner Sicht seitens der Politik unternommen werden, um dem Thema Jugendkriminalität effektiv zu begegnen? Gab es da zuletzt Versäumnisse?
WS: Ich bin weder Politiker noch Sozialarbeiter, aber ein wenig mehr Eingehen auf junge Gedanken und Ängste – siehe Klimaschutz – täte allen gut. Aber Patentlösungen für ein zielführendes Begegnen der Ausuferung der Jugendkriminalität habe ich auch nicht. Fällt Dir etwas ein?
MV: Das vielgerühmte Schlagwort ist ja die sogenannte Prävention. Die positive Einwirkung auf Jugendliche – also zumeist über Erziehung durch Elternhaus und Schule – ist aber gerade in sozial schwächeren Strukturen naturgemäß schwierig. Der Staat könnte aber durch gezieltere Programme – weitaus stärkere Förderung in den Bereichen Bildung und Nachhilfe, Freizeit und insbesondere Sport – sicher noch einiges mehr bewirken. Man muss die jungen Menschen, die haltlos sind, stärker „abholen“, um diesen Perspektiven aufzuzeigen. Dies alles kostet natürlich Geld, das gerade in und nach Zeiten der Corona-Pandemie knapper denn je sein wird.
WS: Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der richtige Weg ist, ob nicht vielmehr die Eltern gefördert werden müssen, angemessen mit ihren Kindern umzugehen. Ansonsten würde man möglicherweise sogar den Konflikt zwischen Eltern und Kindern schüren. Zurück zum Jugendstrafrecht: Mit dem Erziehungsgedanken steht und fällt das Sonderstrafrecht für Jugendliche. In der Dogmatik des Jugendgerichtsgesetzes nimmt er theoretisch eine tragende Rolle ein – nicht nur ausdrücklich bei einer Vielzahl von Vorschriften, sondern auch als übergeordnetes Prinzip, das das gesamte Jugendstrafrecht durchzieht. Leider gibt es offenbar entweder keine oder nur eine ungenügende Ausbildung für Richter, die zum Jugendrichter werden. Die Verinnerlichung, dass der Erziehungsgedanke mit tat- und schuldangemessener Strafe in der Regel nichts zu tun hat, dauert bei einigen länger, als sie Jugendrichter sind. An dieser Stellschraube müsste in die richtige Richtung gedreht werden.
MV: In Zeiten der Pandemie sind die „richtigen“ Auflagen zudem oftmals kaum umsetzbar. Ich höre ständig, dass z.B. Arbeitsstunden gar nicht angeboten werden können, da aufgrund von Corona die Stellen knapp sind. Da wurde einiges verschlafen. Auflagen könnten ja beispielsweise auch in geeigneten Fällen online abgearbeitet werden, insbesondere solche, die einen Ausbildungs- und Lerneffekt erzielen sollen. Dies hätte den Zusatznutzen, dass Jugendliche stärker an die zunehmende Digitalisierung herangeführt werden. Hast Du in dieser Richtung schon einmal etwas gehört?
WS: Ich habe Ähnliches mehrfach – auch schon vor Corona – angeregt und bin auf erstaunte Ungläubigkeit gestoßen, dass man so etwas überhaupt denken kann. Wenn man Staatsanwälte und Richter heute noch zu 90% mit Papierakten durch die Gegend schleichen sieht, und die Akten von Wachtmeistern auf fahrbaren Holzgestellen durch die Gänge geschoben werden, wird natürlich klar, dass solche Online-Anregungen für die Justiz Jahrzehnte zu früh kommen. Es ist eine Schande und skandalös, dass die Justiz nicht nur in Niedersachsen die Nutzung digitaler Möglichkeiten betreffend tatsächlich um viele Jahre zurückhängt, wohl auch, weil selbst junge Juristen nicht selbstbewusst sind, in den Behörden und Gerichten auf den Einsatz moderner Technik zu drängen. Eine gewisse Papierbequemlichkeit scheint im Vordergrund zu stehen. Gerade Jugendliche und Heranwachsende betreffend könnte man auf diesem Gebiet sicher mehr erreichen, als Arbeitsstunden bei der Stadtreinigung ableisten zu lassen.
MV: Abschließend: Welche Entwicklungen wünschst Du Dir für das Jugendstrafrecht der kommenden Jahrzehnte?
WS: Insgesamt kann man nur hoffen, dass Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte zukünftig besser auf ihre besondere Aufgabe vorbereitet werden und mehr praxisbezogene Fortbildungen stattfinden. Auch Fachanwälte für Strafrecht müssen sich jährlich fortbilden, wobei mir persönlich seit Jahren als Referent bei den Rechtsanwaltskammern Sachsen-Anhalt und Braunschweig ausgesprochen wichtig ist, jüngeren Kollegen meine langjährigen Erfahrungen weiterzuvermitteln und Werkzeuge an die Hand zu geben, auch in Jugendstrafverfahren das „richtige Händchen“ zu haben, nicht nur mit den Mandanten, sondern auch mit den Staatsanwälten und Richtern angemessen umzugehen.
MV: Werner, ich danke Dir für dieses Gespräch!